Dr. Wolfgang Oppelt, Rede zur Ausstellung 1999:

Meine lieben Damen und Herren,

in einem der hier hängenden Bilder zitiert Anita Lernet einen Satz des schweizer Psychiaters und Begründers der mit Sigmund Freuds Psychoanalyse konkurrierenden "Analytischen Psychologie" Carl Gustav Jung: "Das Leben ist ein Schlachtfeld, ohne das wir nicht existieren können". Als analytischer Sprachkritiker würde man diesen Satz grammatisch-logisch tranchieren, unter seiner korrekt-glatten Oberfläche dann die banal-blutarme Tautologie finden, daß wir ohne das Leben nicht leben können, und man würde ihn achselzuckend bei den übrigen nebulös-mystizistischen Offenbarungen Jungs ablegen.

Als bildende Künstlerin stellt sich aber Anita Lernet diesen Satz als Palimpsest vor, das unter der grammatisch-pleonastischen Oberfläche des lesbaren Texts die durch ihn überschriebene und erst in künstlich-künstlerischer Beleuchtung zu entziffernde Aussage verbirgt, daß wir nur leben, indem wir uns mit unserer materiell und sozial widerständigen Außenwelt auseinandersetzen. Durch seine Niederschrift in Acrylfarbe auf Leinwand wird der Text für die Künstlerin zu einem Repräsentanten dieser materiellen Außenwelt, mit dem das künstlerische Ich nun emotional und kognitiv zu interagieren beginnt, so daß hierbei die Bildfläche selber zu dem Schlachtfeld wird, auf das der Text metaphorisch verweist.

Auf ihm wird der Malprozess als eine Art Materialschlacht geführt, bis der unter der als Schrift materialisierten Textfläche verborgene Sinn als ideelle und individuelle Essenz der malerischen Existenz der Künstlerin freiliegt und ästhetisch sein materielles Substrat okkupiert. Auf dem Schlachtfeld des Bildes wird so der Text zum Palimpsest seines Sinns, und der in der geschichteten Textur der Farbmaterie seine eigene Geschichte archivierende Malprozess wird zur Metapher des Lebens.

Mit dem malerisch-kontrollierten Einspinnen eines Textes in die aus ihm gewirkte Textur er- und begreift ihn also Anita Lernet und zieht aus ihm eine für sie als Künstlerin lebensnotwendige Erkenntnis-Essenz, die sie mit dem Begriff "Textblut" bezeichnet, so ergreift auch die Spinne ihre im kunstvollen Gespinst ihres Netzes eingefangene Beute und saugt aus ihr deren Blut als ihre eigene Lebensessenz. 

Mit diesem Begriff "Textblut", den sie analog zu dem bereits im Mittelhochdeutschen belegten, "das eigentliche Lebensblut" bezeichnenden Wort "Herzblut" ' bildete, fand Anita Lernet eine Metapher für den innersten Zusammenhang zwischen Leben und Kunst, den sie unter den Ablagerungsschichten des Lebensschlachtfelds durch ihre Arbeit archäologisch freizulegen versucht. Denn wie sich unter dem uneigentlichen oberflächigen Ausdruck einerMetapher und unter der platten Oberfläche von C. G. Jungs Satz der eigentliche Sinn verhüllt, so ist auch dieser Zusammenhang von Leben und Kunst unter den Schichten historischer, geografischer und sozialer Existenzbedingungen des Menschen verborgen. Und diese Bedingtheit bestimmt auch die Texte selber, auf die Anita Lernet mit ihren Werken reagiert oder die sie selbst formuliert: jeder Text ist in unserer Kultur schon von vorneherein auf die Schreib- und Leserichtung von links oben nach rechts unten und auf eine aus den 26 Buchstaben (bzw. 30 mit dem durch die jüngste Rechtschreibreform abgeschafften Ess-Zett und mit den Umlauten) des lateinischen Alphabets bestehende Schrift, auf die neuhochdeutsche Sprache mit ihren orthografischen, syntaktischen und grammatischen Regeln und darüber hinaus auch auf eine geistesgeschichtliche Tradition seiner Aussage Festgelegt.

Durch die eigene Entwicklungsgeschichte aller dieser Bedingungen, also z. B. durch die Schriftgeschichte, durch Laut- und Bedeutungswandel und Etymologie, durch wechselnde orthografische Reformen und durch ihre Abhängigkeit von der Ideengeschichte, schichten sich also die an der Oberflache nur ihren aktuellen Zustand verweisenden Texte diachron in eine latente Tiefe, in der - wie in jedem Individuum die in seinen verschiedenen Persönlichkeitsschichten gespeicherten prägenden Erfahrungen der Sozialisation und Individuation - die prägenden kulturellen Einflüsse eingefroren sind, durch die sie diesen aktuellen Zustand erlangt haben.  Aus solchen Schichtungen möchte Anita Lernet mit ihren Acrylbildern und Acrylglasquadern Bohrkerne präparieren, die die synchrone Gegenwart sowohl der in die Tiefe gelagerten Schichten, als auch des nebeneinander in die Breite fließendem Textes als fossile Dokumentation ihrer diachron vergangenen Herkunft und ihres diachron nacheinander zu entziffernden Sinns anschaulich werden lassen. 

Dieser komplementäre Zusammenhang zwischen Oberfläche und Tiefe wird durch die hier in der Ausstellung gezeigte Leinwand mit dem von Anita Lernet formulierten Satz je tiefer wir kommen, umso mehr werden wir uns seiner Oberfläche bewusst", express bezeichnet, der zunächst von sich selber sprechend, an den Kanten der über den Keilrahmen gezogenen Leinwand aus der Fläche der zweiten in die Tiefe der dritten Dimension abbiegt und damit seine über den Grund einer Leinwand geschichtete Oberfläche erst als solche hervortreten lässt, der aber auch gleichzeitig auf die von außen allein wahrnehmbare oberflächige Erscheinung der scheinbaren Oberflächlichkeit des Menschen anspielt, die ihren tiefsten Grund erst beim selbsterkennenden Eindringen in die physischen und psychischen Bedingungen seiner Entwicklung preisgibt.

In den "Textblut"-Bildern Anita Lernets spielen also die Entzifferbarkeit und der, wie gezeigt, zuweilen sogar tautologisch-banale Sinn eines Textes für Bildtextur und Bildsinn eine untergeordnete Rolle. Letzterer erfüllt sich vielmehr in der Erzeugung der Bildtextur selber aus der - gleich dem Zeitpfeil unumkehrbaren - Zielgerichtetheit der Schreib- und Leserichtung des Textes. 

Diese Zielgerichtetheit baut im Zellenfall ein Gravitationsfeld auf, das oben und unten und damit auch die Aufhängungsweise meist eindeutig festlegt, eine Drehung des Bildes um 90 oder 180 Grad also selten zulässt.  Dies ist etwa auch an dem Bild "6 1/2 Jahre" zu beobachten, bei dem auf einen sprachlich verfassten Text als Vor- und Grundlage ganz verzichtet wurde und in dem nur die sich in der Zeit und in der Zeilenführung realisierende einsinnige Zielrichtung von Texten in der Summierung von rund 2.372 kleinen rechteckigen Feldern beibehalten ist, die jeweils einen Tag repräsentieren. Freilich nicht in Echtzeit 2.372 Tage lang täglich als Quintessenz eines Lebenslaufausschnitts festgehalten, sondern mit Lochschablonen für einunddreißig-, dreißig- und neunundzwanzigtägige Monate aufgetragen, verdichten sich die einzelnen Tagesfelder im Zeitraffer zum Mosaik abgelebter, auf dem Schlachtfeld des Lebens liegengebliebener Augenblicke, und legen sich als bewegte Struktur eines kontinuierlichen Ablaufs wie in einer anderen Bilderserie Lernets die Piktogramme, mit denen der gefährliche Inhalt von Tanklastwägen gekennzeichnet wird, über die emotional geladene Malfläche und unterwerfen sie ihrer chronologischen Ordnung.

Während demnach in Anita Lernets Acrylbildern die im jeweils gelebten Augenblick des Malprozesses einander nach und nach verbergenden Schichten bis auf die letzte und oberste im Dunkel ihrer -vergangenen Gegenwart verharrend die Bedingung ihrer gegenwärtigen Oberfläche als vorgestellte Vergangenheit präsentieren und so als Metaphern für die "Stellung des Menschen im Kosmos" auf der höchsten der einander tragenden, im kollektiven und persönlichen Unbewussten immerwährend gegenwärtigen früheren Stufen seiner Entwicklung vom Anorganischen über das Organische bis zum Psychischen (2) betrachtet werden können, sind in ihren Acrylglaswürfeln alle 16 jeweils aufeinander geschichteten Einzelscheiben explizit gleichzeitig sichtbar. 

Durch ihre Transparenz erstreben die Bildkuben zugleich die Transzendenz ihrer Materialität, denn sie spiegeln in ihrer obersten Fläche auch das Ebenbild ihres Betrachters und verweisen so über sich hinaus.  Das Hinter- und Nebeneinander der Ebenen bedeutet hier kein zur Dauer geronnenes zeitliches Nacheinander, also nicht Geschichtlichkeit und Endlichkeit, sondern schließt - wie seit 125 Millionen Jahren der Bernstein eine Fliege (3) - die physisch vereinzelten Text- und Malschichten in eine zeitlose Gegenwart ein, in der das hindurchfließende Licht sie meta-physisch mit dem projizierten Spiegelbild des Betrachters verschmilzt.

Als Grundthema von Anita Lernets Arbeit kristallisiert sich also, wie letztlich in jeder kulturellen Anstrengung des Menschen, die in seiner physisch-materiellen Existenz unausweichliche Stellung des Menschen auf dem Schlachtfeld der Gegenwart heraus, in der die Zeit "aus einem ungeheuren Vorrat, den wir nicht sehen, den wir vorlaut und ungeduldig etwa die Zukunft nennen dürfen", kommend "wie der Wasserfall, dessen Oberlauf wir nicht kennen", ihre Arbeit als "Bedingung, Mitursache jeglicher Wirkung" leistet, ehe sie augenblicklich hinabstürzt "in das Meer des Vergessens oder der Vergangenheit, wirkungslos, ohnmächtig, flach', (4) , denn. hier in der Gegenwart ist nach Fritz Mauthners Definition "Zeit nur in der Erinnerung oder in der vorgestellten Vergangenheit".

In den tektonischen Schichtungen der Textbilder Anita Lernets wird die Arbeit der Zeit an der Fossilierung des Menschen in den Ablagerungen seiner Vergangenheit sieht- und begreifbar nachvollzogen, wird das "Dunkel des gelebten Augenblicks", als welches Ernst Bloch die Nichtwahrnehmbarkeit des nichtigen Moments der Gegenwart zwischen Zukunft und Vergangenheit bezeichnet, dauerhaft vergegenwärtigt.

Wolfgang Oppelt

(1) Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches W@bucI4 fotomech. Nachdr, München 1984, Bd- 10, Sp. 1226.
(2) Vgl. Max Scheler, Die Stellung des Menschen iin Kosmos, 7. Aufl., BL-rn u. München 1966
(3) Vgl. Gisela Reineking von Bock, Bernstein. Das Gold der Ostsee, Münchcn 1984, S. 15. (4) Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie.  Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1910 /11), Nachdr. Zürich 1980 (Diogenes Taschenbuch 215/1 u. 2), 2. Bd., S. 613          (5) Ebd., 1. Bd., S. 373.
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